In Kürze: Die verkehrliche Situation an der Oderstraße ist durch Kfz- und Lkw-(Durchgangs)Verkehr in den Nebenstraßen Emserstraße und Oderstraße einschüchternd und gefährlich für Menschen zu Fuß und auf dem Rad. Wir schlagen einen modalen Filter an der Siegfriedstraße als kostengünstige und wirksame Maßnahme gegen die alltäglichen Gefährdungen vor. Dadurch wird die eigentliche Funktion der Oderstraße (Erschließung von Wohn- und Freizeiteinrichtungen) wiederhergestellt. Zudem wird die tödliche rechtsabbiegesituation an der Gewerbeeinfahrt unterbunden und die Attraktivität der Radroute erhöht.
UPDATE 11.08.2021: Die Unfallkomissionhat nach mehreren Treffen folgende Maßnahmen beschlossen, die aus unserer Sicht die Grundprobelmatik des Unfalls und des Durchfahrtsverkehrs in keinster Weise adressieren. Wir setzen uns weiter für unseren untenstehenden Vorschlag ein. Die Maßnahmen im Überblick:
1) die Oderstraße wird aus der Zone 30 heraus gelöst und als Tempo 30
Strecke angeordnet (Grundvoraussetzung für das Einrichten einer
Vorfahrtsregelung und Aufbringen von Markierungen)
2) Bevorrechtigung der Oderstraße (Z301 „Vorfahrt“) gegenüber
Siegfriedstraße (Z206 „STOP“ inkl. Haltelinie) und auch gegenüber
Emser Straße (Z205 „Vorfahrt gewähren“)
3) die Senkrecht-Parkplätze zwischen Siegfriedstraße und Emser Straße
werden in Längsparker umgewandelt (dadurch mehr Platz)
4) der nordöstliche Gehwegkopf Oderstraße / Siegfriedstraße wird
baulich umgestaltet, sodass der (nicht benutzungspflichtige) bauliche
Radweg von der Brücke kommend geradlinig weiter geführt werden kann,
also über den Bereich des jetzigen Gehwegkopfes
5) die Führung (s. Punkt 4) über die Siegfriedstraße wird mit einer
Radfurt markiert und rot eingefärbt
6) auf der Westseite der Oderstraße wird ein Schutzstreifen
durchgehend von der Emser Straße bis zur LSA Silbersteinstraße –
Oberlandstraße markiert (inkl. vorgezogene Haltelinie RP 362)
7) im Bereich der Gehwegüberfahrt gegenüber Siegfriedstraße (u.a. Zu-
/ Ausfahrt Graf Spezialbaustoffe) wird der Schutzstreifen zusätzlich
rot eingefärbt (RP 316) und mit Fahrrad-Piktogrammen versehen
An der Oderstraße hat sich im März der erste tödliche Zusammenstoß des Jahres in Berlin ereignet. Eine Radfahrerin wurde von einem rechtsabbiegenden Lkw-Fahrer gerammt. Zusammen mit dem ADFC und Changing Cities hat das Netzwerk fahrradfreundliches Neukölln am Abend desselben Tages zu einer Mahnwache aufgerufen, um zu trauern und eben auch zu mahnen. Zu mahnen, dass solche Ereignisse keineswegs Schicksal oder Zufall sind, sondern immer auch Folge fehlenden Handelns vieler eigentlich Verantwortlicher. Umso wichtiger war es, dass auch Bezirksbürgermeister Martin Hikel am Abend vor Ort war. Er wolle die politische Verantwortung übernehmen und wirksame Maßnahmen zur Vermeidung solcher Zusammenstöße an dieser und vielen anderen Stellen in Neukölln umsetzen. Das ist richtig und wichtig und wir nehmen ihn beim Wort.
Schlechte Infrastruktur, Durchgangsverkehr und Dieselfahrverbot
Wie so viele Straßen in Neukölln leidet auch die Oderstraße unter jahrzehntelanger infrastruktureller Verwahrlosung. Auf dem Weg von und zum Tempelhofer Feld ist die Oderstraße eine wichtige Verbindung für viele Menschen zu Fuß und auf dem Fahrrad. Der Zweirichtungsradweg zwischen Emser Straße und dem südlichen Eingang zum T-Feld ist schmal und in desolatem Zustand, ein befestigter Fußweg fehlt auf einer Seite vollständig. Geht die Situation in diesem Abschnitt der Oderstraße noch als “unverschämt” durch, so wird sie spätestens ab der Emser Straße kreuzgefährlich. Der 2-Richtungs-Radweg endet an der T-Kreuzung abrupt. Vorgesehen ist ab hier, dass Menschen mit dem Rad auf der Fahrbahn weiterfahren. Um dies zu “erzwingen” wurde vor ca. 2 Jahren eine rot-weiße Blockade und ein Gehweg-Schild aufgestellt. Problem gelöst möchte man meinen.
Der grundsätzlich richtige Ansatz wird jedoch wie an so vielen Stellen (meist sog. Fahrradstraßen) in Berlin durch die gleichzeitige Funktion der Straße als Kfz-„Schleichweg“, Lkw-Anfahrtsroute für Gewerbebetriebe und Dieselverbots-Alternativroute unmöglich, unangenehm und gefährlich gemacht.
Auch dem Bezirk-Neukölln ist die Situation bereits seit längerem bewusst. So stellt er 2019 in einer Antwort auf eine Einwohnerinnenanfrage aus der Emserstraße fest:
Auch bei sehr konservativer Schätzung hält sich bestenfalls die Hälfte der Fahrer an die 30km/h Geschwindigkeitsbegrenzung, selbst die 50 km/h Marke dürfte oft überschritten werden, aggressive Überholmanöver sind an der Tagesordnung. Nach Einbruch der Dunkelheit hingegen, finden in diesem Abschnitt der Emser Straße immer häufiger Profilierungsfahrten mit hochmotorisierten PKW und erheblich überhöhter Geschwindigkeit statt. Fahrradfahrer weichen angesichts dieser Risiken zunehmend auf den Bürgersteig aus und gefährden dort wiederum Passanten.
Antwort auf Einwohnerinnenanfrage, 22.05.2019
Damit ist der Zusammenstoß aus unserer Sicht kein individuelles Fehlverhalten, Augenblicksversagen oder gar “Schicksal”. Es ist zum einen ein Symptom Berliner Verkehrsplanungspraxis, die das Problem Durchgangsverkehr noch vielzuoft verharmlost. Zum anderen offenbart es eine unzureichende Berücksichtigung subjektiver Sicherheit ungeschützter Verkehrsteilnehmender.
Konsequenz aus dem tödlichen Zusammenstoß?
Der Bericht der Berliner Unfallkommission zeigt das Problem mit der Betrachtung von Kollisionsgründen und subjektiver Sicherheit auf. Die dortige Schilderung des Kollisionshergangs hebt die “verkehrswidrig” der auf dem Gehweg fahrenden Person hervor. Warum viele Menschen dort fahren, lässt sich an der Statistik über die Ursachen für Zusammenstöße: fehlender Sicherheitsabstand war in den letzten 3 Jahren Kollisionsursache Nr. 1.
Neben der Statistik gibt es eine große Dunkelziffer und eine Vielzahl von Beinahe-Kollisionen. Dahinter stecken Erfahrungen von Einschüchterung, Gefährdung und Verletzungen durch Auto- und Lkw-Fahrende. Das hinterlässt Spuren und lässt das “verkehrswidrige” fahren auf dem Gehweg nachvollziehbar scheinen.
Ein Blick auf die kurz-mittel- und langfristig geplanten Maßnahmen zeigt jedoch, dass solche Aspekte gänzlich unbetrachtet bleiben. Mehr Baken sollen den Gehweg endgültig für Radfahrende sperren (was mit Rollstuhlfahrenden, Kinderwägen, Kindern unter 8 Jahren auf dem Rad usw. passiert bleibt offen). Mehr Farbstriche sollen Vorfahrtsregelungen unterstreichen. Auch die in Aussicht gestellte “Verbreiterung der Gewerbeeinfahrt” trägt dank der größeren Übersichtlichkeit für Lkw-Fahrende wohl eher zum zügigen Abbiegen als zu mehr Vorsicht bei.
Die Hauptursache für Verkehrskollisionen der letzten 3 Jahre – fehlender Sicherheitsabstand – wird indes nicht adressiert. Dabei ist die Ursache – Durchgangsverkehr – überall im Berliner Nebenstraßennetz zu beobachten. Dort wo Autos und Lkw durch Kieze abkürzen können, in engen Wohnstraßen einen Zeitvorteil herausholen oder per Navi die Ampelstauumfahrung angezeigt bekommen, wird Radfahren auf der Fahrbahn unangenehm und gefährlich. Dieses Problem muss an der Oderstraße, der Emser Straße, in Neukölln und auch in ganz Berlin endlich konsequent als solches wahrgenommen und gelöst werden.
Philosophie des offenen Netzes – Ganz Berlin besteht aus Hauptstraßen
Eigentlich ist in Berlin klar geregelt was die (verkehrliche) Aufgabe einer Straße ist. Grob gesagt: Hauptstraßen (Kategorie 0-IV) verteilen den Verkehr großräumig – Neben- oder “Erschließungsstraßen” (nicht klassifizierte Straßen) sorgen dafür, dass Menschen zu Ihren Wohnungen kommen, die BSR den Müll abholt oder der Umzugsservice arbeiten kann.
Eine bewusste Aushebelung führt zu Verkehr in Nebenstraßen. Macht sie faktisch zu einem Teil eines so ausgeweiteten Hauptstraßennetzes. Diese sind weder sicherheitstechnisch dafür geeignet noch macht es Sinn aus Unterhaltungssicht. Nebenstraßen faktisch zu Hauptverkehrsstraßen zu machen ohne diese sicherheitstechnisch dafür zu rüsten entbehrt nicht einer gewissen Fahrlässigkeit und ist weit entfernt von der im Mobilitätsgesetz formulierten Vision Zero.
Die Senatsverkehrsverwaltung interpretiert die eigenen Richtlinien für die die Emserstraße/Oderstraße maximal Kfz-freundlich und leider nicht im Sinne stadtverträglicher Verkehrsgestaltung:
“Es sind keine Umfahrungshinweise oder Umleitungsbeschilderungen für konkrete Umfahrungsstrecken vorgesehen (Anm. NFN: Dieselfahrverbot auf der Hermannbrücke). Sehr wohl wird aber im engeren und weiteren Umfeld der Durchfahrtsverbotsstrecken auf Hinweisschildern auf die Maßnahme aufmerksam gemacht werden. So wird erreicht, dass sich die betroffenen Fahrzeugführerinnen und Fahrzeugführer in Abhängigkeit ihrer unterschiedlichen Fahrtziele auf verschiedene Umfahrungsmöglichkeiten im engmaschigen Berliner Straßennetz verteilen.“
FragdenStaat.de, https://fragdenstaat.de/anfrage/dieselfahrverbot-hermannstrae-ausgewiesene-umfahrungen-und-zahlen-zum-konkreten-nutzen/
Auch am Beispiel Richardkiez wurde bereits die Kfz-verkehrsplanerische Großzügigkeit in Berlin deutlich. Hier erlaubt die “Philosophie des offenen Netzes” nicht die Sperrung der Durchfahrtsroute über historischen Richardplatzes, da andernfalls Umwege über die Hauptstraßen zu unzumutbarem Zeitverlusten für den Durchgangsverkehr führen würden. Dieser Denkweise und Abwägungen treten wir entschieden entgegen. Hier und auch an vielen anderen Stellen im Bezirk wird glücklicherweise gehandelt. Modale Filter gegen Durchgangsverkehr sind u.a. effektive Verkehrssicherheitsmaßnahmen, die auch an der Oderstraße wirken.
Wir fordern konsequentes Handeln im Sinne der Verkehrssicherheit – Unser Vorschlag Diagonalsperre Siegfriedstraße
Aus unsere Sicht sind die vorgeschlagenen Maßnahmen der Unfallkommission unzureichend. Wir schlagen demgegenüber vor, das eigentliche Problem “Schleichverkehr” zu beseitigen und zudem die Rechtsabbieger-Situation an der unübersichtlichen Einfahrt vollends ausschließen.
Kernelement unseres Vorschlags ist eine Diagonalsperre an der Gewerbeeinfahrt/Oderstraße/Siegfriedstraße. Die Anfahrt der Lkw erfolgt somit nur noch über die südliche Oderstraße – und ausschließlich als linksabbiege-Fahrmanöver. Zudem wird der Kfz-Schleichverkehr unterbunden.
Die Erschließung der Sportstätten bleibt über die Emserstraße bestehen – zudem erhöht sich die Attraktivität per Fahrrad anzureisen. Für die Regionalligaspiele bzw. besondere Events kann die Diagonalsperre an der Siegfriedstraße geöffnet werden.
Mit dem Vorschlag wird die Funktion der Nebenstraßen wiederhergestellt, die Fahrradroute vom Durchgangsverkehrs befreit und die sicherheitsrelevanten Lkw-Fahrmanöver unterbunden.
Wir hoffen, dass die Unfallkommission und Herr Hikel diese Variante im SInner der Verkehrssicherheit ernsthaft berücksichtigen.
LINKS zum THEMA
https://www.berlin.de/ba-neukoelln/politik-und-verwaltung/bezirksverordnetenversammlung/online/vo020.asp?VOLFDNR=6652#searchword
https://www.berliner-zeitung.de/mensch-metropole/wegen-dieser-planungsfehler-musste-eine-radfahrerin-in-neukoelln-sterben-li.149836?pid=true
https://leute.tagesspiegel.de/neukoelln/macher/2021/03/29/165540/nach-toedlichem-radunfall-hikel-kuendigt-massnahmen-fuer-mehr-verkehrssicherheit-in-der-oderstrasse-an/
https://facettenneukoelln.wordpress.com/2021/03/21/todlicher-lkw-abbiegeunfall-in-neukolln/
1 comment on “Tödlicher Zusammenstoß an der Oderstraße – Vision Zero in Neukölln”