„Einfallstraßen haben ein großes Potenzial für eine nachhaltige Stadt- und Mobilitätsentwicklung“

Interview mit der Neuköllner Stadtplanerin Dr. Cordelia Polin
Urban Catalyst Studio

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NFN: In Neukölln wurden zum wiederholten Male die Stickstoffdioxidwerte und Feinstaubgrenzwerte überschritten. Gerade ersteres wird hauptsächlich durch den Kfz-Verkehr verursacht. Berlin zeigt insgesamt – trotz der vielen Grünflächen und der vergleichsweise großen Stadtfläche – schlechte Werte. Woran liegt das – stadtplanerisch gesehen?
Einerseits wird ein Großteil der Mobilität nach wie vor über Autoverkehr abgewickelt, auch wenn erwiesen ist, dass gerade der Dieselantrieb zu großen gesundheitlichen Belastungen führt.

Andererseits gibt es gerade in der dicht bebauten Innenstadt aufgrund der Bauweise wenig Luftaustausch. Hier müsste der Autoverkehr über die Regelungen der Umweltzone hinaus stärker eingeschränkt werden.
Wie könnte ein Verkehrssystem so organisiert sein, dass es weniger Emissionen verursacht? Geht das überhaupt?
Das Verkehrssystem müsste radikal auf den Umweltverbund – also den Fuß- und Radverkehr sowie den öffentlichen Nahverkehr ausgerichtet werden. Das geht, wenn man die verkehrspolitischen Prioritäten deutlich verändert, insbesondere zugunsten des Radverkehrs. Natürlich wäre ein solcher Prozess mit viel Gegenwind verbunden. Umso wichtiger ist es, jetzt schon sehr schnell mit guten Beispielprojekten zu zeigen, dass nachhaltige Mobilität gut funktionieren kann, die Lebensqualität erhöht und auch für Einzelhändler und Gewerbetreibende Lösungen für Liefer- und Kundenverkehr gefunden werden können.
Was kann man von anderen Städten lernen?
Von London kann man beispielsweise lernen, dass Personen gebraucht werden, die politisch eine Vorreiterrolle übernehmen und sich stark für nachhaltige Mobilität einsetzen, selbst mit gutem Beispiel vorangehen. Der [ehemalige, Anm. d. Red.] – nicht unumstrittene – Bürgermeister Boris Johnson hat in London, ausgehend von einem niedrigen Niveau, doch Einiges erreicht und dem Radfahren zu einer ganz neuen Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit verholfen.

Zudem haben in London Stadtplaner, Landschaftsarchitekten, Verkehrsplaner, die Wirtschaftsförderung über mehrere Jahre gemeinsam in einer Abteilung der Verwaltung zusammengearbeitet und Projekte im Bereich der nachhaltigen Mobilität realisiert. Diese interdisziplinäre Zusammenarbeit bei „Design for London“ ist auch in anderen Städten keineswegs selbstverständlich. Es ist aber sehr hilfreich Fragen der Mobilität gemeinsam mit Einzelhandel, Gestaltung von Straßen und Plätzen, Gestaltung der Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs etc. zu betrachten, da diese Themen eng miteinander verknüpft sind.
Welche Rolle spielen die Einfallsstraßen in die Stadt wie es die Hermannstraße, die KMS und die Sonnenallee sind?
Die Straßen haben ein großes Potenzial für eine nachhaltige Stadt- und Mobilitätsentwicklung, weil sich an ihnen viele sehr urbane Funktionen verbinden. Sie sind Stadtteilzentren mit Einzelhandel und wichtigen öffentlichen und kulturellen Nutzungen, werden wie im Fall der Karl-Marx-Straße und der Hermannstraße von U-Bahnlinien „begleitet“, vom S-Bahnring gekreuzt. Außerdem sind sich wichtige Identifikationsorte in der Stadt und sie verbinden das Stadtzentrum mit der Stadtregion. Es ist schade, dass diese wichtigen Straßen so durch den Autoverkehr entwertet sind, dass darunter etwa auch der Einzelhandel leidet und man eigentlich nicht gerne direkt an der Straße wohnen möchte. Wenn man aber an einem warmen Abend am Rathaus Neukölln vorbei geht, merkt man, wie gerne sich die Menschen auf dem Platz dort aufhalten – trotz des Autoverkehrs. Diese Straßen wieder vom Transit- zum Aufenthaltsraum zu machen, sollte ein wichtiges Ziel der Stadtentwicklung sein, denn dann können die Potenziale der Orte wieder richtig zum Tragen kommen.

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Attraktive Fahrradwege wie hier in Kopenhagen fehlen in Neukölln fast vollständig

Die Politik behauptet häufig, dass aufgrund der hohen Verkehrsbelastung auf diesen Straßen keine Fahrradwege Platz finden. Können Sie dieser Argumentation folgen?

Wenn es sicherere und komfortablere Radwege gäbe, würden noch mehr Menschen aufs Rad umsteigen. Es ist wichtig einen verlässlichen, günstigen und leistungsfähigen ÖPNV und mit guten Angeboten im Radverkehr wie sicheren Radwegen, Mobilitätsstationen, Ausleihsystemen für Lastenräder etc. zu kombinieren. Dann kann man auch restriktiver mit dem Autoverkehr umgehen und diesen stärker aus der Innenstadt heraushalten. Dass das funktioniert, zeigen Städte wie Kopenhagen, die schon aus vielen Ausfallstraßen drastisch den Autoverkehr herausgenommen haben.

Welche Besonderheit weist Neukölln als Bezirk in seiner Stadtstruktur auf? Inwiefern unterscheidet sich der Süden vom Norden und wie müsste planerisch auf diese Unterschiede eingegangen werden?

Vor allem im Norden des Bezirks, in Quartieren wie dem Donaukiez nördlich der Anzengruberstraße gibt es fast keine Grün- und Freiflächen, nur sehr wenige Spielplätze für Kinder. Dass dort – in einem Gebiet, das wirklich hervorragend an den öffentlichen Nahverkehr angebunden ist – so viel Platz den parkenden Autos zur Verfügung gestellt wird – kostenlos – ist eine unglaubliche Ungerechtigkeit. Die engen Straßen sind extrem von parkendenden Autos dominiert. Es ist erstaunlich, dass es immer noch gesellschaftlicher Konsens ist, dass diese Ungerechtigkeit hingenommen wird – vor allem wenn man bedenkt, dass in den Quartieren viele Menschen wohnen, die es sich nicht leisten können, jedes Wochenende einen Kurzurlaub ins Grüne zu machen.

Der Süden des Bezirks hat einen ganz anderen Charakter, hier dominieren suburbane Strukturen oder Siedlungsbau. Hier steht die Planung in Bezug auf nachhaltige Mobilität vor anderen Herausforderungen – Verkehrsflächen sind oft überdimensioniert, die Distanzen sind lang, es gibt weniger kompakten städtebauliche Strukturen und die Nutzungsmischung ist nicht so stark ausgeprägt. Der Einzelhandel ist auf das Auto ausgerichtet. Wie derartige urbane Strukturen umgebaut werden können, so dass sie sich nachhaltiger entwickeln, ist ein großes Aufgabenfeld, das in den kommenden Jahren in der Stadtplanung an Bedeutung gewinnen wird, für das wir die Lösungsansätze jetzt aber noch gar nicht kennen, sondern sie erst erproben müssen.

Wenn die Radialrouten begrünt und verkehrsberuhigt würden, würde sich der Verkehr nicht auf Nebenstraßen verlagern? Wie könnte man das verhindern? In Neukölln fällt auf, dass auch die sogenannte Hintergrundmessung in der Nansenstraße zwar niedrigere, aber immer noch zu hohe Werte aufweist. Wie kriegt man den Verkehr aus den Nebenstraßen raus, um beispielsweise Kindern das Fahrradfahren dort wieder nahe zu bringen?

Zumindest in der exzellent durch den öffentlichen Nahverkehr erschlossenen Innenstadt halte ich es für notwendig, insgesamt restriktiver mit dem privaten Autoverkehr und dem zunehmenden Lieferverkehr umzugehen, etwa durch blaue Plaketten.

Wenn Sie sich eine stadtplanerische Maßnahme für Neukölln wünschen könnten, was wäre das (unabhängig von Finanzierungsfragen und Zuständigkeiten)?

Das könnte eine Umgestaltung der Sonnenallee sein – mit Straßenbahn oder zumindest einem Bus, der nicht immer im Stau steht, mit deutlich weniger Autos und Parkplätzen sowie mit sicheren Radwegen und komfortablen Fußwegen. Die Straße hat viele Qualitäten, ist aufgrund der arabischen Geschäfte und Restaurants ein wichtiger Ort der Migration und für viele Menschen auch ein „Sprungbrett“ für Integration. Mehr Aufenthaltsqualität und mehr Sicherheit würden der Straße gut tun und die wichtigen Funktionen der Straße stärken!

Vielen Dank!

Dr. Cordelia Polinna ist Expertin für strategische Fragen der Stadtentwicklung, großräumige Entwicklungskonzepte und kooperativen Beteiligungsverfahren. Sie hat umfangreiche Erfahrungen in der Praxis, u.a. bei Polinna Hauck Landscape + Urbanism und bei Urban Catalyst Studio, sowie in Forschung- und Lehre. Von 2011-2013 war sie Gastprofessorin für Planungs- und Architektursoziologie an der TU Berlin. Bis 2014 war sie im wissenschaftlichen Beirat für die BerlinStrategie | Stadtentwicklungskonzept 2030. Sie ist im Norden Neuköllns aufgewachsen und lebt zwischen Karl-Marx-Straße und Sonnenallee. 

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